Helga Hammer ist ein Phänomen. Als ihr erster Roman erschien, war sie 77 Jahre alt. Im Arbeitszimmer ihres Hauses auf der Kanaren-Insel La Palma, wo die heute 80-Jährige seit mehr als 25 Jahren wohnt, lagern noch etliche weitere unveröffentlichte Manuskripte.
„Wen Gott liebt, dem schenkt er Wasser und ein Leben auf La Palma“, so lautet ein kanarisches Sprichwort. Man kann sich Helga Hammer also durchaus als einen vom Schicksal begünstigten Menschen vorstellen. Wer sich bei einem Besuch der Autorin auf der „Isla Bonita“, der hübschen Insel, davon überzeugen will, braucht allerdings einen guten Orientierungssinn, um ihr Domizil in den Bergen von El Paso zu finden. Zwischen zwei Häusern, kaum sichtbar, zweigt unvermutet eine schmale Sackgasse ab, die in das rund 7000 qm große Grundstück der Hammers mündet. Das Haus habe ihr Bruder nach ihren Vorstellungen entworfen, erklärt Helga Hammer, einen Komplex von lachen, miteinander verbundenen Häuschen mit den inseltypischen steilen Dächern und roten Dachziegeln, verschiedenen Terrassen und einem Souterrain mit Ausgang zum Garten.
Acht Jahre insgesamt haben der Hausbau und die Gestaltung des Gartens gedauert, für den der felsige Hang zu Terrassen umgeformt wurde. Was dort wächst, hat Helga Hammer selbst geplant und geplanzt. Der Jacarandabaum entfaltet Mitte Mai seine zarte lila Blütenpracht, riesenhafte Strelitzien recken ihre exotischen Vogelköpfe, Pfeffer- und Drachenbäume geben markante Struktur, die Rosen setzen einen dunkelroten Akzent. Auch ein Gemüsegarten gehört zur Anlage und ein Obstgarten mit Orangen, Mangos und Feigen. Es ist ein farbenfrohes und früchtetragendes Paradies, ihr Paradies, in dem Helga Hammer viel Zeit verbringt. „Ich wühle gerne mit den Händen in der Erde“, strahlt die Hausherrin.
Zu Hause im Paradies
Die zwei großen Hüte-Hunde, die zum Haushalt gehören, sind Garaianos, wie Helga Hammer erläutert, eine inseleigene Züchtung aus dem Ort Garaia, die normalerweise für die Bewachung der Ziegenherden eingesetzt werden. Früher habe sie die beiden gerne mit auf ihre Spaziergänge genommen, meint Helga Hammer, während sie ihnen das dicke Fell krault, aber inzwischen hätten sie am liebsten ihre Ruhe und wollten sich nur noch verwöhnen lassen. Wenn sie im schicken Kleid und auf hohen Absätzen trittsicher auf den unebenen Wegen des Gartens vorangeht, – „Ich hab eigentlich immer Stöckel an“, lacht sie – wirkt sie elegant und damenhaft. Aber es steckt auch eine Sportlerin in ihr.
Schon als Kind war sie viel mit ihrer Familie wandern. Und hat mit ihrem Mann fast alle Gipfel Europas bestiegen, „immer mit Rucksack und Zelt“. Und natürlich mit festem Schuhwerk. Daneben trainiert die Frau mit der dichten rötlich-blonden Haarpracht einmal die Woche im Kraftraum. Sie sieht mindestens 15 Jahre jünger aus, als sie ist. Und nun kommt auch noch die Rolle der gefragten Schriftstellerin hinzu. „Ja, ichbin spät dran“, sagt Helga Hammer und lacht wieder. Sie beendet ihre Sätze oft mit diesem kleinen Lachen. Das wirkt beinah schüchtern und sehr sympathisch.
Anpassung und erste Aufbrüche
Die späte Veröffentlichung ist, vereinfacht gesagt, der klassischen Frauenrolle geschuldet: Kurz vor der Matura verliebt sich die Tochter aus einem Künstlerhaushalt, der Vater ist Opernsänger, in den sieben Jahre älteren Adolf Hammer, wird schwanger, bricht die Schule ab. Das Paar heiratet und zieht zuerst nach München, wo er bei einem Raum- fahrt- und Rüstungskonzern arbeitet und dann wegen eines Auftrags für drei Jahre mit der Familie nach Ägypten geht. In kurzem Abstand werden zwei weitere Kinder geboren.
„Da hatte ich mit Anfang 20 gleich drei kleine Kinder und kam gar nicht mehr zum Nachdenken“, sagt Helga Hammer über diesen Lebensabschnitt. Immerhin macht sie in Ägypten das Abitur nach und lernt an der Universität Arabisch. Zurück in München, managt sie allein den Bau des gemeinsamen Hauses. Um das nötige Knowhow zu lernen, arbeitet sie, während die Kinder in der Schule sind, zwei Jahre lang im Büro eines Architekten. Es ist auch ein Selbstbehauptungsversuch. Als sie 36 ist, wird das vierte Kind, ein zweiter Sohn, geboren – geplant und erwünscht. Ihr Mann macht inzwischen Karriere, sie bekommt ihn kaum noch zu Gesicht. Ein traditionelles Familienmodell.
Als der Jüngste in die Schule kommt, beschließt sie zu studieren: Spanisch, Fran-zösisch und Betriebswirtschaft am Dolmetscherinstitut. Als 40-Jährige unter lauter 19-Jährigen: „Das war für mich ein ziemlicher Sprung, vom Hausfrauendasein unter all die jungen Leute“, erinnert sie sich. Denn was ihre Kommilitonen locker bewältigen, muss sie neben der Familienarbeit organisieren – und gegen die Einwände des Ehemannes, der findet, dass sie ganz im Haus und bei den Kindern bleiben sollte. So steht sie morgens um sechs Uhr auf, versorgt die Kinder, verbringt den Vormittag in der Uni und lernt nachmittags neben der Familie noch für das Studium.
„Das war reiner Stress. Aber wieder etwas zu lernen, das hat mich fasziniert. Das war wie ein Aufbruch: „Jetzt mache ich mal was für mich.“ Nach dem Abschluss schreibt sie sich gleich noch für Arabistik ein, doch das Studium kann sie nicht beenden, denn Ende der neunziger Jahre siedeln sie nach La Palma um. Wie hat sie den dauernden Spagat zwischen Anpassung und Aufbruch-Wünschen ausgehalten? Über die Frage muss sie nachdenken: „Das habe ich damals gar nicht so wahrgenommen. Von meinem Vater war ich es schon gewöhnt, dass ich mich anpassen musste. Ich habe erst spät gelernt, dass ich mich auch durchsetzen kann.“
Schreiben gegen den Schmerz
Eine große Reise nach Asien mit Kindern und Enkeln wird immer mit einem der dunkelsten Kapitel ihres Lebens verbunden bleiben, dem Tod des ältesten Sohnes. Schon währenddessen klagt er über heftige Rückenschmerzen. Im Krankenhaus wird Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt, es bleiben ihm nur zwei Monate. „Da brach für mich die Welt zusammen“, erinnert sich Helga Hammer. Nur zwei Jahre später stirbt die jüngste Tochter ebenfalls an Krebs. Bei beiden Kindern hat sie am Krankenbett gesessen, sie fast bis zum Ende begleitet. Wie kann man das aushalten? Das Schreiben habe sie damals gerettet, nachdem der schlimmste Schmerz vorbei war: „Wenn ich das nicht gemacht hätte, wäre ich wahrscheinlich todkrank geworden. Das war eine Art Selbsttherapie.“
Seitdem schreibt sie täglich, meist von 21 Uhr bis Mitternacht. „Ich bin ein sehr disziplinierter Mensch.“ Am liebsten würde sie sich öfter an den Computer setzen. Aber tagsüber gibt es genug Arbeit in Haus und Garten, und dann ist da der Freundeskreis, eine eingeschworene Gemeinschaft von deutschen Residenten, die auf der Insel ihren Ruhestand verbringen und mit denen man sich regelmäßig zum Austausch beim Essen treffen.
Ein eigenes Leben
Inzwischen hat Helga Hammer den größten Schmerz verwunden. Das Schreiben aber ist ihr geblieben, ein „Lebenselixier“, das sie nicht mehr missen möchte. Als Besucher mag man sich da wundern, dass ihr Arbeitszimmer ein kleiner fensterloser Raum im Souterrain ist. Warum hat sie sich von 600 qm Wohnläche ausgerechnet das dunkelste Zimmer ausgesucht? „Eine verständliche Frage“, antwortet sie lachend, aber sie brauche ein „Loch“, wo sie ganz allein sei, diese „Höhle“, in der sie nicht hört, wenn Besuch kommt oder wenn nach ihr gerufen wird. Antwortet sie nicht, weiß man inzwischen, dass sie hier unten ist und nicht gestört werden will.
Es ist ihr Zimmer für sich allein, der Ort ihres anderen, ganz eigenen Lebens. Dort stehen auf dem Regal nebeneinander ihre bisherigen Manuskripte: teils gebunden, teils noch als Loseblattsammlung im Ordner, aber alle schon einmal vorlektoriert. Sie nennt sie alle ihre „Bücher“. „Das ist nur das Ausgedruckte. Ich habe noch eine ganze Truhe voll mit den verschiedenen handschriftlichen Entwürfen.“ Und Notiz- bücher. Und Gedichte. Die Stoffe nimmt Helga Hammer zum größten Teil aus ihrem Leben. Doch ist nicht alles eins zu eins aus der Wirklichkeit übertragen. „Es macht mir Spaß, Figuren zu erfinden“, meint sie schmunzelnd, „es fällt mir auch nicht schwer, Menschen denken und reden zu lassen.“ Ihre eigenen Lektüren und Vorbilder lassen sich in der gemeinsamen Bibliothek besichtigen.
Schritte ins Unbekannte
Ohne das große Leid, das sie erfahren hat, wäre das Schreiben vermutlich nie zu ihrer Passion geworden, gäbe es die Schriftstellerin Helga Hammer vielleicht nicht. Und ohne das Schreiben wäre sie womöglich an dem Leid zerbrochen. Aber die 77-Jährige verfügt auch noch über andere Kraftquellen: Das sind vor allem die Natur, der Sport und ihre Freunde. Und natürlich geben ihr auch die Kinder und mittlerweile sieben Enkel Kraft, deren Fotos in beinah allen Räumen des Souterrains stehen. Sie wohnen zwar nicht auf der Insel, kommen aber regelmäßig im Sommer zu Besuch.
Im Übrigen sei sie eine „kräftige Natur“ und nicht so leicht umzuwerfen. Da hat sie offenbar etwas mit der Hauptfigur ihres Romans Durch alle Zeiten gemeinsam: die Stärke, den Widrigkeiten des Lebens und selbst großem Leid zu trotzen. „Ich hätte immer gerne mehr Freiheit gehabt.“, meint Helga Hammer rückblickend, und so schwingt in ihrem späten Aufbruch als Schriftstellerin auch ein eigensinniges „Jetzt bin ich dran“ mit. Und eine leise Wehmut ist zu spüren. „Wenn ich an mein Alter denke“, meint sie nachdenklich, „dann frage ich mich schon, wie viel Zeit mir wohl noch bleibt, um den Erfolg zu genießen.“ Und den Weg als Schriftstellerin weiterzugehen. Ihr Erfolgsroman „Durch alle Zeiten“ wurde 2017 bei Ullstein veröffentlicht, ihr aktuelles Buch „Goldene Hochzeit“ handelt wieder von einer starken Frau. Diese will nach 50 Ehejahren ein neues Leben beginnen.
Foto: Melanie Hauke
Buchtipp: Goldene Hochzeit, von Helga Hammer, erschienen bei List Verlag, 18,50 Euro