Pflege wird aus der Familie ausgelagert

Wir werden immer älter – aber auch selbstbestimmter und autonomer. Ein Gespräch mit Franz Kolland, Gerontologe an der Universität Wien, über den demografischen Wandel, assistive Technologien und Gesundheit im hohen Alter.

Herr Kolland, als Gerontologe beschäftigen Sie sich u.a. mit dem demografischen Wandel. Wie wird sich unsere Gesellschaft verändern? 
In der Gerontologie sprechen wir von einem mehrfachen Altern. Zum einen nimmt der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung zu, auch in absoluten Zahlen steigt die Zahl der Älteren. Zum anderen wächst die Gruppe der Hochaltrigen, also jener, die 80 oder älter werden. Im Jahr 2050 erwarten wir etwa eine Million hochaltrige Menschen, das ist ein beachtlicher Anteil.

Welche Herausforderungen entstehen dadurch?
Die Pflege älterer Menschen ist nicht eine primär staatliche Aufgabe, sondern wird von Familienmitgliedern übernommen. Schon im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1850 wurde verankert, dass erwachsene Kinder ihre Eltern pflegen müssen. Die Zahl der Kinder geht zurück, ältere Menschen werden mehr – Pflege und Gesundheit wird also langfristig aus der Familie ausgelagert, hierfür braucht es konkrete Lösungen. 
Ein weiterer Aspekt: Wenn man sich heute Seniorenheime ansieht, sind die Patienten sehr homogen. Das wird sich ändern, da die Diversität in unserer Gesellschaft zunimmt. Auch damit sind Herausforderungen verbunden. 

Welche Herausforderungen sind das?
Menschen mit Migrationshintergrund spielen derzeit weder im Finanzierungs- noch im Pflegesystem eine große Rolle – wir müssen uns schon jetzt darauf einstellen, dass sich das grundlegend wandeln wird. In einer Umfrage haben wir erhoben, welche Erwartungen Migranten an Einrichtungen für ältere Menschen haben. Es kam heraus, dass sie sich Achtsamkeit in Bezug auf religiösen Hintergrund, (damit verbundene) Essgewohnheiten sowie mehrsprachiges Pflegepersonal wünschen. Bis dato ist einzig der sprachliche Aspekt gegeben, da in Pflegeberufen oftmals Menschen mit Migrationshintergrund beschäftigt sind. 

Inwiefern geht Ihre Forschung auf diese neuen Herausforderungen ein?
Wir wissen, dass die Zahl der Hochaltrigen rapide steigt, doch noch immer werden diese Menschen vergleichsweise selten adressiert, wenn es um (Präventions-)Maßnahmen geht. Wir arbeiten u.a. an assistiven Technologien und entwickeln Bewegungsspiele für ältere Menschen mit einer leichtgradigen funktionellen Einschränkung. Gemeinsam mit technischen Universitäten und EntwicklerInnen arbeiten wir an einem Artefakt, das älteren Personen ermöglicht, sich selbst auf einem Bildschirm sehend zu spielen und gezielt körperlich aktiv zu sein.
Wir beschäftigen uns auch mit Lern- und Bildungsfragen. Menschen, die regelmäßig lernen, leben gesünder – das haben Studien ergeben. Sie bewegen sich häufiger, vernetzen sich mit anderen Menschen und sind vor sozialer Isolation geschützt. 

Menschen, die heute jung sind, werden mit digitalen Medien altern. Inwiefern verändert das den Alterungsprozess, insbesondere in Hinblick auf die soziale Isolation im Alter?
Es gibt die Idee, dass der Digital Divide in unserer Gesellschaft abnimmt, aber ich denke, dass es sich hierbei um eine Fehlannahme handelt. Auch in Zukunft wird es neue Entwicklungen sowie technologische Innovationen geben und heute junge Menschen werden genauso "abgehängt" sein. Digitale Instrumente, die einen starken interaktiven Ansatz in sich tragen und auf Netzwerke und Kommunikation ausgerichtet sind, könnten aber der sozialen Isolation entgegenwirken – so auch im hohen Alter.       

Im hohen Alter ist unser Körper anfälliger für Krankheiten, die Regeneration dauert länger, ein Sturz beispielsweise ist kritisch. Wie gesund können wir in der Hochaltrigkeit sein?
Werden junge Menschen krank, kann durch Medikamente, Eingriffe etc. der Zustand der guten Funktionalität wiederhergestellt werden. In der Hochaltrigkeit verfolgen medizinische Interventionen ein anderes Ziel: Hier geht es darum, Beschwerden einzudämmen und eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren. In diesem Kontext ist auch die Palliativ-Pflege entstanden. Es wird versucht, Menschen ein so weit wie möglich schmerzreduziertes Leben zu ermöglichen und den Sterbeprozess zu begleiten. 

2016 wurde das Erwachsenenschutzrecht reformiert. Was hat sich für hochaltrige Menschen dadurch geändert?
Das neue Erwachsenenschutzrecht sieht vor, dass Menschen in Gesundheits- und Pflegefragen autonom entscheiden können. Familien sollen mehr eingebunden und die angeordnete Sachwalterschaft vermieden werden. In der Neugestaltung waren betroffene Personen, aber auch SeniorInnenvertretungen, Volksanwaltschaft, Sachwaltvereine etc. beteiligt; es gab regelmäßig Gesprächsrunden und Diskussionsgruppen. Selbstbestimmung ist die fundamentale Idee des Erwachsenenschutzes, das verändert das Gesundheitssystem grundlegend. 

Die Selbstbestimmung hat aber nach wie vor Grenzen, zum Beispiel, wenn sich Menschen aktiv zum Sterben entschließen. Ist auch da in Österreich ein Wandel in Sicht? 
Ich denke, dass sich in Bezug auf Sterbehilfe in Österreich nicht so schnell etwas ändern wird. Einen „selbstbestimmten“ Sterbeprozess gibt es eher in protestantischen Ländern, so zum Beispiel in der Schweiz oder in Belgien. Sterbehilfe ist ein schwieriges Thema: Einerseits gibt es die Reserviertheit gegenüber einem Tod, der möglicherweise dem Markt unterworfen wird, um Pflegekosten einzusparen, der industrialisiert wird und dadurch an Humanität verliert. Dem gegenüber steht der freie Wille, ohne Schmerzen selbstbestimmt aus dem Leben scheiden zu können. Auch das versucht man gewissermaßen über die Palliativ -Pflege aufzufangen. Dahinter verbirgt sich aber keine „versteckte Suizidhilfe“, wie es manchmal gesagt wird, sondern ein Ansatz, der das subjektive Wohlbefinden der Patienten in den Vordergrund stellt, um die verbleibende Lebenszeit so angenehm wie möglich zu gestalten.

Foto: Universität Wien

 

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